Ein Vegetarier in der Hölle 

»Setzen Sie sich bitte, Herr Graeser«, sagte der kühl lächelnde Beamte. Seine Uniform sass stramm, wie angegossen. Wahrscheinlich massgeschneidert. Der athletische schwarze Mann thronte straff hinter einem gewaltigen Schreibtisch vor noch gewaltigeren, ordentlich abgelegten Aktengebirgen in riesigen Ablagegestellen. War das ein Polizist, ein Zollbeamter oder ein Offizier der Armee?

Herr Graeser, ein hagerer, bleicher Mann, stand unsicher in diesem geschmackvoll eingerichteten Bureau, das einer ihm unbekannten Behörde offenbar als Arbeitsraum diente. Der Mann sah verbraucht aus, als hätte er ein Hängeregistratur im Gesicht.

An der einen Seitenwand hingen zwei Bilderkopien vom Höllensturz durch den Erzengel Michael. Der dünne Mann betrachtete sie einen Moment lang.

»Gefallen sie Ihnen? Das rechts ist von Rubens und das linke von Luca Giordano«, erläuterte der Offizier sichtlich amüsiert.

Was sollte das jetzt? dachte der ausgemergelte Mann, den die Bilder erschreckt hatten. Was sollten die hier? Und wie war ausgerechnet er an diesen mysteriösen Ort gekommen? Er erinnerte sich nicht. Er müsste das doch wissen.
»Wo bin ich hier?«, fragte er halbwegs resolut, als er noch einmal höflich angewiesen wurde, sich auf den zugegeben sehr bequemen roten Sessel zu setzen.
Neugierig und verunsichert musterte er den dunkelhäutigen Mann. Die Schulterstücke der blutroten Uniformjacke zierten je zwei goldene und bekränzte Sterne und über den Brusttaschen ein paar ihm unbekannte Orden oder Abzeichen. Unschwer erkannte er auch zwei gekreuzte Mistgabeln in Gold auf der rechten Brusttasche.
»Mein Name ist Santana«, sagte nun der Mann mit sonorer Bassstimme, »Oberstleutnant Santana, um genau zu sein. Und Sie sind Herr Manuel Graeser?«
»Woher … ?«
»Nun, Herr Graeser, Sie wollen natürlich wissen, wo sie sind, warum Sie hier und wie Sie hierhergekommen sind.«
»Ja, verdammt, was soll das Ganze?« Er fluchte selten. Das war sonst ganz und gar nicht seine Art. Aber angesichts der prekären Lage war das nicht zu vermeiden. Santana schaute ihn vorwurfsvoll an und sagte:
»Bitte unterlassen Sie das Fluchen. Wir haben uns das hier abgewöhnt. Sie verstehen: Diplomatische Beziehungen nach oben. Nun aber der Reihe nach. Sie befinden sich im Immigrationsbüro des Inferno-Gebäudes, Sektion …«
»Wie bitte? Sie meinen doch nicht etwa …?«
»… die Hölle, doch, Volltreffer, genau die meine ich. Im Klartext: Sie befinden sich in der Sektion Prüfungen und Zuweisungen der Abteilung Immigration, IKRK I, das heisst Inferno-Kontroll-Regel-Kreis I.« ...

E. Gabriel & Cie GmbH
Kurzgeschichten und Satiren Nr. 3     Gebunden     229 Seiten
ISBN 978-3-906112-75-6     CHF 28.50     Verlag swiboo.ch
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